Kaum ein Wort in der esoterisch-spirituellen Szene wird so inflationär gebraucht wie das Verb „spiegeln“. Warum ist das so, warum ist der Spiegel so omnipräsent?
Weil unsere ganze Wahrnehmung, unser Erleben, unsere Existenz durchdrungen ist von Spiegelungen und noch mehr Projektionen. Das Auge (der berühmte Spiegel zur Seele) kann sich selbst nicht sehen. Das Bewusstsein, welches wir sind, kann sich selbst nicht erkennen. Dazu musste es sich entzweien und Polaritäten ins Spiel bringen. Wir brauchen also ein DU und die Illusion der Trennung (ICH bin nicht DU), damit wir uns erkennen.
Vorab, alles, was uns widerfährt, hat mit uns zu tun. Es gibt kein Erleben im Aussen, welches nicht auch ein Teil von uns ist. Uns wird ständig der Spiegel vorgehalten. Und er lügt nie, weil er stets urteilsfrei ist, er reflektiert einfach das, was ist. Im Gegensatz zu uns – ob unserer Unbewusstheit urteilen und projizieren wir ständig. Weil wir aus der Opferhaltung agieren, uns ungerecht behandelt fühlen, unser verletztes inneres Kind hat dabei das Zepter in der Hand. Die unerfüllten Bedürfnisse aus der Kindheit und die damit verbundene Haltung projizieren wir ins DU, dies können Kinder, Freunde, vor allem der Partner sein. Diese halten uns den Spiegel vor, auch indem sie auf unsere Wunden hinweisen bzw. die Verletzungen von damals erwecken. Das geschieht natürlich gegenseitig und wir reagieren mit Verteidigungsmechanismen, mit kindlicher Regression, mit Forderungen, Erwartungen, Anpassung und Manipulation.Immer sind dabei Projektionen im Spiel. In einer Projektion übertrage ich eigene unbewusste Anteile (Bild, Haltung, Charaktereigenschaft, Komplex) auf eine andere Person, erkenne es nicht als mir zugehörig. Diese Person dient mir als Projektionsfläche.
Zurück zum Spiegel. Jeder Spiegel ist vielschichtig. Wenn z.B. ein Klient zu mir mit einem bestimmten Thema kommt, kratzt dieses Thema nur an der Oberfläche oder nur die oberen Schichten. Darunter offenbaren sich in der Regel weitaus tiefer verwurzelte Themen und Wunden. Je mehr Schichten ein Spiegel hat, desto „schmutziger“ ist er. Dadurch verzerrt er die eigene Wahrnehmung, vor allem das Selbstbild, welches dann ablehnend und negativ ist. Dann neigt man auch zu destruktiven, selbst-zerstörerischen Handlungen und gibt dem Spiegel die Schuld dafür. Weil der Spiegel nicht „sauber“ ist (frei von Projektionen), wird man immer wieder ent-täuscht. Die wohl bekannteste Enttäuschung ist jene nach der Verliebtheit. Plötzlich sieht man den Partner „mit anderen Augen“. Dieser hat sich nicht über Nacht verändert, aber plötzlich kommen die eigenen ungeliebten Anteile zum Vorschein.
Dafür sind Spiegel auch da, sie spiegeln uns das, was wir (in uns) nicht wahrhaben wollen, was wir verdrängen und verstecken, was wir nicht angenommen und integriert haben, unsere Glaubenssätze, Gedanken und Gefühle, unsere Widerstände und das damit verbundene Leiden. Unser Körper ist ein idealer Spiegel. Aber auch jede Begegnung, jede Situation.
Je bewusster ein Mensch ist, desto mehr spiegelt er und desto weniger projiziert er. Spiegelungen erkenne ich an meinen Emotionen. Gefühle und Emotionen sind nicht dasselbe. Gefühle geschehen unmittelbar, jetzt, sind bewusst. Emotionen schleppen wir aus der Vergangenheit mit und sind unbewusst. Wenn wir Gefühle ignorieren, unterdrücken, nicht ausleben, werden sie zu Emotionen. Auch nicht ausgedrückte, gelebte Liebe oder Freude können zu Emotionen führen.Gefühle bringen einem immer weiter, heilen. Man spürt eine Ausweitung, Emotionen engen ein. Bei Emotionen geht es nämlich um Gedanken, die hinderlich sind und Teil unserer Schutzschicht sind. Wie gesagt, der Spiegel reflektiert das, was ist. Das erkennt man jedoch nicht, weil er durch unsere Emotionen „schmutzig“ ist. Die Kunst ist dann, bei sich zu bleiben, die Emotionen nicht am anderen (Spiegel) auszuagieren und den Spiegel verantwortlich zu machen, ihn zu bekämpfen. Die Verletzung in der Vergangenheit und die damit entstandene Wunde sind der Grund für den schmutzigen Spiegel.
Das heisst, versuchen die Emotion nicht auf eine eher übliche, unbewusste Art zu „verarbeiten“, indem man in Widerstand geht, nörgelt, jammert, lamentiert, streitet, gereizt ist, manipuliert, usw. Sondern die Verantwortung auf sich zu nehmen und nicht dem anderen was an den Kopf zu werfen. Nur allzu gern möchte man da (Ego) Recht haben, sich rechtfertigen, urteilen, usw. Sehr wohl kann und darf man sich mitteilen, wie „ich bin gereizt“, „ich bin emotional“, „ich fühle mich verletzt“, „das macht was mit mir“, damit dein Gegenüber weiss, woran er dran ist. Dann gilt es sich vom Partner oder vom Menschen , der dich getriggert hat, zu entfernen, und in körperliche Aktivität zu gehen. Joggen, Schütteln, Schreien, Tanzen (eher wild und unkoordiniert), auf Kissen schlagen, etc. bringen dich langsam ins Hier und Jetzt, denn in der Emotion bist du in der Vergangenheit gefangen, dein Körper auch. Auf diese Weise öffnest du dich auch den Gefühlen, plötzlich kann es sein, dass ohne Ende Tränen fliessen. Da ist in der Regel ein gutes Zeichen, dass nämlich ein Gefühl, welches unterdrückt war, befreit wurde. Und darum geht es auch, Emotionen in Gefühle zu verwandeln. So geschieht Heilung. (siehe dazu „Zeit für Gefühle“ von Diana und Michael Richardson)
Wenn man bei sich bleibt und Beobachter wird, keine Emotionen hochkommen, egal wie unangenehm die Situation oder das Verhalten anderer ist, dient man als Spiegel für andere. Man ist nicht im Widerstand gegen das, was ist, man urteilt nicht. Wenn sich zwei solche Menschen begegnen, sehen sie sich im Anderen. Der Spiegel ist klar.
Zwei Schlüssel sind also Ablehnung (werde gespiegelt) und Akzeptanz (diene als Spiegel). Spiegel dienen dem Erkennen und der Wahrheitsfindung. Sie sind der wichtigste Kompass auf dem Weg zu uns selbst. Je mehr und bewusster wir ihn benutzen, desto mehr erkennen wir uns selbst. Letztendlich ist das auch der Sinn unseres Daseins: erkenne dich selbst!